EIN MOTORRAD WIRD FLÜGGE

heinz.rogel
3 min readSep 28, 2018

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TERROR IN DER CAFETERIA

Volker sitzt zur Abwechslung mal nicht in einer Tapas-Bar am Hafen, sondern in einer Cafeteria am Carrer Agulla. Es ist schon Anfang September, dennoch fühlt sich die Sonne über Cala Ratjada verpflichtet Hochsommerhitze abzuliefern. Volker hat nichtsdestoweniger einen zungenverbrühenden americano bestellt, es ist halt noch ein bisschen früh für ein kühles Bier.

Während er sich durch die neuesten Politik-Anekdoten wischt, kriegt Volker aus den Augen- und Ohrenwinkeln mit, dass sich am Nebentisch ein spanisches Pärchen niederlässt. Nebst Kleinkind. Und nebst Spielzeugauto. Oder Spielzeugflieger, denn das Gerät kann nicht nur über den Tisch rasseln, sondern auch durch die Luft schwirren und auf den Boden scheppern. Oder auf einem Nebentisch notlanden. Zum Beispiel auf dem von Volker, und hier in seinem nicht mehr ganz so zungenverbrühendem americano.

Volker ist nun in der Lage, das Gerät als ein kaffeegebräuntes, flugfähiges Motorrad zu identifizieren. Am Nebentisch setzen die Eltern ungerührt ihr Gespräch fort und überlassen es dem Tischnachbarn, mit ihrem Spross über die Herausgabe des Motorradfliegers zu verhandeln. Volker ist zunächst versucht, das Hybridfahrzeug den Rückflug antreten zu lassen, händigt es dann aber doch dem Fahrzeughalter aus.

Der verübt nun weiter Anschläge auf weitere americanos sowie auf cafés con leche, cafés con brandy und brandys con café. Und weiter widmen die Eltern des Attentäters sich ihrem Gespräch. Erst nach einer Bruchlandung mit Glasschaden an der Kuchenvitrine greift der Vater zu der einschneidenden Erziehungsmaßnahme, seinen Sprössling mit der Andeutung eines Kopfschüttelns zu rügen. Der Sprössling stimmt sofort einen herz- und trommelfellzerreißenden Klagegesang an und rettet sich in den Schoß seiner Mutter. Die rügt nun wiederum den Vater mit der Andeutung eines Kopfschüttelns und nimmt das grausam misshandelte Söhnchen unter ihre Fittiche. Es folgt eine Tröstungs- und Versöhnungsorgie, in deren Verlauf sich erst Mutter und Söhnchen, dann Vater und Söhnchen und zuletzt Mutter und Vater geräuschvoll schluchzend in den Armen liegen.

Überreichlich mit Tröstungseinheiten ausgestattet nimmt das Söhnchen seine terroristischen Aktivitäten wieder auf. Es vergrößert jedoch deren Radius und damit das Ausmaß der Schäden und Kollateralschäden an der Einrichtung und unter den Gästen. Bei einem Vorstoß an die Theke, die wegen ihrer Höhe nicht als Rollbahn taugt, mutiert das Motorrad zur Boden-Luft-Rakete, zertrümmert eine Batterie Brandy-, Sherry- und Kräuterlikörflaschen und versieht den Wirt mit einer Fleischwunde. Da der Verwundete das Geschoss nicht mehr rausrücken will, rüstet sich der Untergrundkämpfer mit anderen für ihn erreichbaren Flugobjekten aus. Eine Glaskaraffe startet im unteren Bord eines Geschirr-Regals und schafft es bis auf die Höhe der Espressomaschine, wo sie für Kaffee-Eruptionen, Milchfontänen und Verbrühungen ersten und zweiten Grades sorgt, eine Teekanne düst in eine Spiegelwand, die eine Busladung alemannischer Touristen unter sich begräbt, und ein Sortiment fliegender Untertassen versetzt die übrigen Gäste in Panik, alles rennet, rettet, flüchtet, auch Volker bringt sich in Sicherheit.

Nur die Eltern, die dieses göttliche Strafgericht über das Café gebracht haben, bleiben an ihrem Tisch sitzen. Ins Gespräch vertieft.

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