HEILIGABEND MIT AKZENT
BETONUNGEN VON VORN BIS LANG
Wenn es nach Volker gegangen wäre, hätte es an Heiligabend weder Gans noch Malefiz noch die Fotos von Sóller gegeben. Aber die Hamburger Verwandten, bei denen er und seine Gattin die Weihnachtstage verbrachten, mochten eben Geflügel und kindische Brettspiele und Erinnerungen an langweilige Ausflüge auf Mallorca. Und so nahm der Heilige Abend seinen unheiligen Lauf.
Schon als es um die spärlichen Komplimente für Brust und Keule und Füllung der Gans ging, kamen erste Unstimmigkeiten auf. Volkers Gattin und ihre Schwester, die Produzentinnen des kulinarischen Kunstwerks, hatten mehrstimmige gregorianische Lobgesänge erwartet. Stattdessen war hier die Brust ein bisschen strähnig und da die Keule ein bisschen sehnig, nur die Füllung fand Gnade vor den Gaumen der beiden Herren.
Für die Missachtung ihrer kooperativen Kochkünste rächten sich die Damen dann beim Malefiz. Sie hielten zusammen, verzichteten darauf, sich gegenseitig rauszuschmeißen, verstellten nur den Herren den Weg mit Sperrsteinen und beförderten deren Figuren jedes Mal mit hysterischem Kreischen zu den Ausgangsfeldern zurück.
Bei der Sichtung der Fotos vom letzten Mallorca-Urlaub der Hamburger brachen sich schließlich die angestauten Sturzbäche männlicher wie weiblicher Aggression Bahn. Es begann damit, dass Volker seine Schwägerin darüber belehrte, man spreche Valldemossa nicht mit einem “L” wie in Malefiz aus, sondern mit einem “Ei” wie in, äh, also, na ja, halt wie in Ei. Also VEIDEMOSSA. Weil die solcherweise Belehrte ihm aber mit vehementem Kopfgeschüttel widersprach, wies er sie darauf hin, dass sie ja selber sogar Sóller nicht mit einem “L” wie in Malle, sondern mit einem “J” wie in Mallorca ausgesprochen habe. Also SOHJER.
Jetzt griff Volkers Gattin ein, denn Volker hatte Sóller auf der ersten Silbe betont. In seinem Mund klinge der Name der Stadt ja wie der Name der Mark-Twain-Figur Tom Sawyer, also SOHJER, rief sie und äffte ihn mehrmals höhnisch nach. Stattdessen heiße es aber SOJEHR, also mit der Betonung auf der zweiten Silbe.
Hier schaltete sich Volkers Schwager ein, um ihm beizustehen. Er fragte Volkers Gattin triumphierend, wozu es denn dann den Akzent auf dem “O” von Sóller gebe. Das habe überhaupt nichts zu bedeuten, behauptete Volkers Gattin mit Leidenschaft in der Stimme, wenn auch mit Unsicherheit im Gesichtsausdruck. Und fuhr fort: Der Akzent beziehe sich in diesem Fall nicht auf die Betonung durch äh, also, na ja durch Lautstärke, sondern durch Länge. Beziehungsweise Kürze. In diesem besonderen Fall.
Nach einer Verblüffungspause brach Volker in verächtliches Gelächter aus. Ja was denn nun, Länge oder Kürze, wollte er wissen. Und ob seine Gattin sich die Ausspracheregeln des Spanischen auch sonst selber zusammenstelle. Dann wundere es ihn nicht, dass ihre Versuche, sich gegenüber den Einheimischen auf Mallorca verständlich zu machen, immer im Chaos endeten.
Inzwischen hatte die Schwägerin den Computer angestellt, in einem Spanisch-Wörterbuch den Ortsnamen Sóller eingegeben und sich die Aussprache angehört. Sie strahlte in die Runde, stellte den Lautsprecher des Computers auf volle Lautstärke und ließ die Stimme der Sprecherin erschallen. SOLLER sagte die Sprecherin. So, als würde sie fragen: “Soller oder soller nich’?”