JULI UND AUGUST (V)
29. Juni 1969
Die letzten Lebenszeichen der Grateful Dead sind erstorben, die letzten Wiederbelebungsversuche der Creedence Clearwater Revival sind aufgegeben worden und mit der Musik sind die Teeküchentänzer und mit den Teeküchentänzern die Küchenschwätzer weggedriftet. In unseren Fluren und Zimmern schlurft und klappert und plappert es nicht mehr. Wir schlafen wieder den Schlaf der Gerechten, nachdem die Zweisamen unter uns sich gegenseitig gut gewesen sind, und die Einsamen sich selber.
Es ist still in den Küchen, nur in den nie jemals kühl gewesenen Kühlschrankfächern summt es. Es ist dunkel in den Fluren, nur in den schon lange nicht mehr leuchtenden Notleuchten glimmt es und nur die Eckenheimer Straßenlaternen schimmern schwach durch die immer schon verrußten Milchglasscheiben an den Flurenden. Aber Halt! Da ist doch noch…
Ja. In der Teeküche im neunten Stock ist in der Tat noch Licht. Eine männliche Stimme dringt durch die Tür heraus zu dem vor sich hin brütenden Fahrstuhl, der gerade im Halbschlaf den nächsten Moment erträumt, in dem er uns zwischen zwei Stockwerken hängen lassen wird. Vielleicht wird er es noch heute Nacht tun, wenn er mitkriegt, dass nebenan in der Teeküche ein Brandstifter sitzt, nein, thront.
Wir sitzen als Maulaffenauditorium im Halbkreis um Andy herum. Er ist unser Haudraufheld, in Bonny-and-Clyde-Pose, mit verhängtem Cool-Hand-Luke-Blick und vibrierender Light-My-Fire-Stimme. Die Whiskyflasche in der Linken, die Zigarette in der Rechten sitzt er ranzend und rauchend und saufend vor uns wie die fleischgewordene Revolution.
“Wenn de die Revolution machen willst, dann darfste nich’ warten, bis die einer für dich macht, Mann. Irgendso’n Scheißproff. Oder irgendso’ne Scheißleiche in so’m Scheißschmöker, verstehste. Die Revolution, die musste selber machen. Da musste dich reinschmeißen. Da musste dich scheiß-noch-ma’ von dir selber reinschmeißen lassen. Da musste irgendwann am nächsten Tag aufwachen und dir sagen, Scheiße, was hab ich’n da gemacht, was is’n jetzt los, wo geht’s’n jetzt hin? Verstehste?”
“Das glaub ich dir ja, Genosse”, dröhnt Heiner, dessen Kahltiere sich zwar um ihn geschart haben, aber insgeheim hoffen, dass der Zwölfender da vorn ihre Witterung aufnehmen wird, was Heiner natürlich mitkriegt. Er fährt sich kampflustig durch Mähne und Bart. “Aber das mit der Guerilla, Genosse, das müssen wir doch mal…”
“Ich bin nich’ dein Genosse”, dröhnt Andy zurück und fasst die hellblonde Braut neben Heiner ins Auge. “Wir sind nich’ eure Genossen, Mann.”
Er macht eine lässige Humphrey-Bogart-Geste mit der Zigarette und streift Heiner mit einem verächtlichen James-Dean-Blick.
“Wir sitzen nich’ auf irgendso’m Scheiß-Teach-in rum wie ihr. Und wichsen uns ein’n ab. Wir latschen nich’ durch die Straßen und beten irgendwelche Scheißparolen nach. Im Gleichschritt Marsch, Ho Tschi Minh, halleluja.”
Aus dem Hintergrund zollt Eckart keckernd Beifall und ein paar von uns stimmen feixend ein. Wir feiern die griesgrämige Grimasse Heiners, der jetzt, eher Schutz suchend als Schutz bietend, den Arm um das Weibchen an seiner Seite legt.
“Vive la révolution!”, kreischt aus dem Hintergrund Margit, die in eindeutiger Kamasutra-Stellung Gunnars Schoß besetzt hat. Mit der einen Hand umklammert sie die Weinflasche, mit der anderen Gunnars Genick und mit beiden Schenkeln seine Hüften.
“Yeah, man, halleluja!”, grölt Gunnar und hält seinen Joint von Margits fuhrwerkender Flasche weg.
“Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh!”, kräht Dirk, der in seinem Suff kaum noch was mitkriegt, nur, dass sich Monis schnucklig weicher Leib an ihn schmiegt. Moni hat bis eben noch, den Kopf auf Dirks Schulter, vor sich hin gedöst und fährt jetzt hoch. Sie fängt Andys Blick auf.
“Scheißtyp!”, ruft sie, aber der Ruf geht in unseren Huldigungen des Máximo Líder unter.
“Wir quatschen nich’ lang rum, wir MACHEN was”, donnert Andy mit Jim-Morrison-Stimme. “Fragt doch mal die Moni hier!”
Die Whiskyflasche in seiner Hand schwingt gluckernd und spuckend in Monis Richtung. “Die ham wir aus’m Heimknast rausgeholt. Wo die Scheißwärter die und die andern Mädchen wie Vieh gehalten ham. Die Lehrlinge da, verstehste. Bei Wasser und Brot ham die die gehalten.”
Er wendet sich wieder Heiner zu. “Und ihr? Wo wart ihr’n da, vorige Woche, ihr Scheißer? Auf irgendso’m Scheiß-Sit-in oder so’m Scheiß, oder?”
Heiner bäumt sich empört auf.
“Wir waren in Rüsselsheim. Bei den Opel-Arbeitern. Wir ham Flugblätter verteilt.” Er sieht sich um und wirft sich in die Brust. “Bei der Arbeiterklasse waren wir. An der Basis. Wir gehen in die Betriebe. Wo sich die relevanten Sachen abspielen, die konkreten Konflikte…”
“Ach, komm mir doch nich’ mit euren Betrieben”, unterbricht ihn Andy. “Eure Arbeiterklasse. Die wischen sich den Arsch ab mit euren Flugblättern. Die wissen doch längst, dass von euch bloß Scheißgequatsche kommt, mehr nich’.”
Unsere begeisterten Zwischenrufe ebben zum Gemurmel ab, weil unsere heilige Kuh, die Arbeiterklasse, grade was abgekriegt hat. Aber bevor Heiner Gelände gewinnen kann, rollt der nächste Jim-Morrison-Donner über ihn weg.
“Die Opelarbeiter, die machen IHR Ding. Und WIR machen UNSER Ding. DIE kümmern sich um ihre Lohntüten und WIR kümmern uns drum, dass die Amis und die Nazis was aufs Maul kriegen. Und die Bullen und die Bonzen. Und wenn’s sein muss, dann brennt’s mal irgendwo, verstehste. Oder’s geht auch mal was in die Luft… Was soll’s, scheiß-noch-ma’.”
“Yeah man, was soll’s!”, johlt Gunnar.
“Vive la révolution!”, wiederholt Margit gellend.
“Viva la Guerilla!”, kreischt Sylvia.
“Viva Las Vegas!”, kräht Dirk.
“Scheißtyp!”, faucht Moni immer noch.
“Weg mit den Schwänzen von den Eminenzen!”, jubelt Geli.
“Antrag zur Geschäftsordnung!”, meldet sich Hajo.
“Vi-Vi-Viva!”, stottert Eckart.
“Jaahh, vivaahh, scheiß-noch-emaahh’!”, grölt der Liebloser.
“Aktionismus!”, stellt Gerd leise fest.