JULI UND AUGUST (VII)
30. Juni 1969
Unser Sound begleitet uns überall hin, dafür sorgen allein schon das lange Haar, die Bärte und die Sandalen bei den Typen und die nackte Haut, die Hosen und die Zigaretten bei den Weibern. In den Vorlesungen und Seminaren überlagert unser Sound meist den braven Kammerton der kurzhaarigen Köpfe und rasierten Gesichter und der züchtig bedeckten Knie unter den Röcken und Kostümen. Wenn wir aber in den Semesterferien ins Arbeitsleben ausschwärmen, um unser Budget mit einem Ferienjob aufzubessern, dann ist Tarnen und Täuschen angesagt. Dann werden wir ein paar Wochen lang zu Tintenfischen, die sich den Gewässergründen anpassen, in die unsere Jobs uns geschwemmt haben. Die Typen gehen mit halblang frisierten Haaren und gestutzten Bärten ins Büro, ins Kaufhaus oder ins Geschäft und die Weiber stehen in den gleichen Blusen und Röcken wie die Festangestellten an der Hotelrezeption, am Kartenschalter oder an der Verkaufstheke.
Alex aus dem siebten Stock lässt sich mit seinem feschen Fassonschnitt und seinen adretten Cordjeans nicht von den Verkäufern in dem Möbelhaus unterscheiden, bei dem er heute einen Ferienjob antritt. Und Inga aus dem zehnten Stock hat ihr Haar hochgesteckt und das Unisex-Shirt und die Bluejeans gegen ein sittsames Samtkostüm eingetauscht und ist damit eine aus dem Ei gepellte Messehostess wie ihre aus dem Ei gepellten Kolleginnen. Und Iris aus dem fünften Stock bedient die Rimini-Urlauber im gleichen Haarspray-und-Eyeliner-Look, in dem die übrigen Damen und Dämchen an den Tischen des Reisebüros sitzen.
Wer von uns nicht zum Hilfsmittel der Mimikry greift, um sich in Gestalt und Farbe den Arbeitstieren um sich her anzupassen, muss damit rechnen, entweder erst gar keinen Job zu ergattern oder schon nach den ersten Stunden rausgeworfen zu werden. Heute Vormittag passiert das Rüdiger aus dem neunten Stock.
Mit schulterlanger Mähne und ausgefranstem Kinnbart und in Hawaiihemd, Bermudajeans und Strandlatschen sitzt er seit ein paar Stunden neben einer mit falschen Wimpern klimpernden, blütenweiß beblusten, hochhackigen Sekretärin und sortiert Schriftstücke. Da entdeckt der krawattierte, jackettierte, bügelfaltige Abteilungsleiter die Gammlergestalt, die ihm der Personalchef als Urlaubsaushilfe ins Vorzimmer gesetzt hat. Er holt Rüdiger ins Chefzimmer und macht ihm klar, dass er mit diesem Habitus vielleicht für eine Beschäftigung als Schmuckverkäufer auf dem Flohmarkt oder als Bananenkistenträger in der Großmarkthalle geeignet sein mag, nicht aber als Arbeitskraft in einer angesehenen Versicherungsfirma.
Das war wohl nix, gesteht sich der Liebloser ein, als er sich nach dem Linguistikseminar auf den Heimweg macht. Wie konnte er das aber auch ahnen. Dass da heute so’ne Scheißzicke so’n Scheißreferat hält. Über irgendso’n Scheiß-Luckatsch. Von dem war nicht die Bohne die Rede gewesen bis jetzt. Stand nicht die Bohne was auf der Leseliste, von dem Scheiß-Luckatsch. Und da darf die’n Scheißreferat über den halten. Denselben Scheiß-Senf hat die todsicher schon mal woanders abgelassen. Und der Prof, der alte Lustmolch, der hat sich den Scheiß bloß angehört, weil er scharf auf die war. Auf die halbnackte blonde Scheiß-Ische da. Die hatte doch kaum was an. Sitzt da quasi im Scheiß-Bikini rum und hält dem ihr Gesäuge unter die Nase.
An die Diskussion nach dem Referat denkt der Liebloser jetzt lieber nicht. An seinen schiefgegangenen Versuch, den restringierten Code von Bernstein auf die mimetische Widerspiegelung bei Lucàcs aufzupfropfen. Und an den Moment, als der Professor ihm vor den kichernden Kommilitonen mehr als deutlich zu verstehen gab, dass er weder vom restringierten Code noch von der mimetischen Widerspiegelung die geringste Ahnung hat.
Vor lauter Frust würde er jetzt am liebsten nach Lieblos abdampfen. Heim zu Muttern. Aber dazu braucht er Fahrgeld und das hat er nicht. Die Überweisung kommt erst morgen oder übermorgen. Und pumpen tut ihm auch keiner mehr was.
Als er in Eckenheim vom Rad steigt, sieht er den Professor und seine Saufbrüder am Kiosk stehen. Hermann, der Kioskpächter, winkt ihm durch das Kioskfenster zu. Na klar, Mann. Bei dem kann er doch anschreiben lassen, jetzt am Monatsende.
Der Professor strahlt ihm mit brüderlicher Willkommensgrimasse entgegen. Und heute gibt der Liebloser seinem Bruder auch tatsächlich einen aus. Und nicht nur einen. Denn der Liebloser braucht einen Zuhörer für seinen Vortrag über den restringierten Code im Allgemeinen und die mimetische Widerspiegelung im Besonderen.
Nachdem er bei Hermann zwei Flaschen Bier bestellt hat, schiebt er erst mal sein Rad zum Fahrradstand und schließt es ab. Der Professor lässt sich inzwischen den Alibirest aus seiner Flasche durch den faltigen Hals laufen, späht dann ungeduldig ins Dunkel hinter dem Kioskfenster und grimassiert ‘Mach-hin-Hermann’.
“Also, Professor”, beginnt der Liebloser, “hör zu.”
Die Grimasse des Professors zeigt ergebenste Zuhörbereitschaft an.
“Die sozialen Aspekte von der mimetischen Widerspiegelung… Nein. Quatsch. Die soziolinguistischen Aspekte. Verstehste, Professor?”
Der Professor versteht. Er versteht so sehr, dass ihm die Spucke aus dem offenen Mund läuft.
Hermann schiebt zwei Biere auf die Kiosktheke. Gieriges Geglucker beiderseits. Dann auf der einen Seite die Grimasse ‘Selig-sind-die-deren-Durst-gelöscht-ist’. Und auf der anderen Seite ein rasselnder Rülpser und die Fortsetzung des Vortrags.
“Also. Der Luckatsch. Der hat das nämlich auch rausgekriegt. Genauso wie der Bernstein. Das mit dem kurzen Wortschatz und mit der kontextuellen Sprache. Die kontextuelle Sprache, das is’, wenn die bloß immer nur ‘das da’ sagen. Und nich’ “das rote Auto da”. Das is’ kontextuell. Merk dir das, Professor.”
Eine vehemente “Das-merk-ich mir-mein-Leben-lang”-Grimasse des Professors.
Der Liebloser nickt zufrieden, leert seine Flasche in einem Zug und rülpst und bestellt die nächsten zwei Biere. Also versucht der Professor Schritt zu halten, verschluckt sich aber und wird von einem minutenlangen, grässlich krachenden Hustenanfall heimgesucht.
Ungerührt weitertrinkend hört sich der Liebloser die Hustenkracher an. Als der Professor ausgehustet hat, ist der Liebloser schon bei der nächsten Flasche und hält seinen Vortrag jetzt dem Kioskpächter. Der hört aber nicht zu, sondern versucht einem der übrigen Brüder des Professors den Unterschied zwischen der Kreditspanne eines mittellosen Saufbruders und der eines Studenten zu erklären, der am nächsten Tag Geld auf dem Konto haben wird.
Nachdem der Professor seine Stimmbänder mit Bier durchgespült hat, steht er mit der Grimasse ‘Hart-wie-Kruppstahl’ wieder zur Verfügung. Der Liebloser hält ihm den Zeigefinger unter die graustachlige Nase.
“Respekt, Professor. Respekt vor der Kompensation. Merk dir das! Beziehungsweise vor der Sozial-… Vor der Sozial-, Sozialsituation. Vor der Sozialsituation von den Kindern. Die ham ja’ne Sprache, die Kinder, verstehste. Das is’ die eigene Sprache von den Kindern. Die is’ bloß’n bisschen restringiert, die Sprache.”
Der Liebloser leert die vierte Flasche und will gerade wieder einen mächtigen Rülpser rauslassen, da bemerkt er, dass ein ältliches, kugeliges Weibchen und ein ebenso kugeliges Kind von hinten herangerollt sind. Das Kind sieht wie ein dickes, vierjähriges Mädchen aus, ist aber ein dicker, sechsjähriger Junge. Der zappelt und quengelt und zeigt auf eins der Glasballons mit Süßigkeiten.
“Des da, Omi, des da!”
“Was dann? Des da? Des rote da?”
“Naa, des da.”
“Des grüne da?”
“Naa, des da.”
Der Liebloser greift ein.
“Du willst doch das gelbe Brausepulver da, oder?”
Der Bengel steckt den Zeigefinger, mit dem er eben auf ‘Des-da’ gezeigt hat, in den Mund und guckt den Liebloser und dann die Omi stumm an. Auch der Liebloser guckt die Omi an. Und grinst.
“Die Kleine will das gelbe Brausepulver da.”
Die Omi bestraft ihn mit einem Blick auf seine Bierflasche und mit einem Schütteln ihrer Dauerwellen. Doch der Liebloser lässt sich davon nicht beirren.
“Die Kleine spricht restringiert, wissen Sie das? Die muss ma’ lern’n elaboriert zu sprechen. Nich’ so kontextuell. Verstehen Sie?”
Die Omi schnappt nach Luft und plustert sich auf.
“Also, kümmern Sie sich ema um Ihne Ihr Bier und net um unsern Tommy. De’ Tommy, der kann spresche wie… Also, der sprischt zeh’ma’ besser als wie Sie un’ des ganze Gesocks hier.”
Sie rollt den plärrenden kugeligen Jungen weg.
Hermann erscheint mit Biernachschub am Kioskfenster. Der Liebloser hält dem Professor wieder den Zeigefinger unter die Nase.
“Haste gesehen, Professor? Kontextuell. Kontextuelle Sprache. Also restringiert. Merk dir das! Restringiert und kontextuell.”